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D) Perspektive, Schaukelnde Linie, Modell, Fotografie, optische Täuschung

 

1. Perspektive

 

Die „falsche" Mondneigung findet ihre Erklärung in der alltäglichen, allerdings beim Mond gar nicht erwarteten Wirkung der Perspektive. Die einfachste Erklärung bietet das Besenstielexperiment. Zur Auflösung des Rätsels genügt es, bei gleichzeitig mit der Sonne sichtbarem Mond einen längeren Stab so in die Luft zu halten, dass an einem Ende die Sonne und am andern der Mond liegt. Zuerst sieht man zur Sonne. Dann wendet man den Blick bei unverändert gehaltenem Stab ganz zum Mond und erkennt den Irrtum sofort (Besenstielexperiment). Warum es sich um die Wirkung der Perspektive handelt, wird in den folgenden Ziffern erläutert.

 

2. Schaukelnde Linie 

Zunächst ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, dass der zum Himmel gerichtete Blick zwischen "nach oben" bzw. "nach unten" nicht ohne weiteres unterscheiden kann. Das zeigt der in Bild 11 zu sehende Flugzeugkondensstreifen. Er verläuft von links unten nach rechts oben, u. z. mit ca. 45°. Jeder weiß, dass Flugzeuge in verschiedenen Höhen und in alle Himmelsrichtungen fliegen, dass sie aber - solange sie nicht starten oder landen - ihre Höhe im Prinzip nicht ändern, schon gar nicht mit 45°!  Der Kondensstreifen verläuft zwar schräg. Das Flugzeug fliegt dennoch "waagrecht", d. h. in konstanter Höhe. „Nach oben“ bzw „nach unten“ ist hier also keine sinnvolle Aussage. 

Bild 12 zeigt, welches Chaos am Himmel herrschen würde, wenn die Flugzeuge tatsächlich derart kunterbunt steil nach oben bzw. steil nach unten fliegen würden, wie die Kondesstreifen zu zeigen scheinen. Die Passagiere würden sich wundern, vielleicht sogar die Schwerelosigkeit erleben, zumindest würde sich ihr Magen heben. Nun zeigt obiges Bild 11 gleichzeitig eine Mondsichel, deren Symmetrieachse ungefähr in die gleiche Richtung zeigt wie der Kondensstreifen. Vom Flugzeug wissen wir, dass es waagrecht fliegt und nicht „nach oben“. Dann kann die Mondsichel auch nicht „nach oben“ zeigen. Dass es sich dabei um die Wirkung der Perspektive handelt, ist damit freilich immer noch nicht genügend deutlich.

Weniger befremdlich als am Himmel sind uns die Wirkungen der Perspektive "auf Erden", am vertrautesten bei Gebäuden und in Straßenfluchten. Bild 13 zeigt ein Gebäude, das außen quaderförmig, d. h. allseits rechtwinklig  gebaut ist (Bildautor: Wolfram Gothe 2003). Die oberen und unteren Kanten jeder Außenfläche schneiden sich mit ihren Verlängerungen im jeweiligen Fluchtpunkt (Fluchtpunklinien, hier Abbildung mit zwei Fluchtpunkten, links und rechts). Die obere Kante der rechts gelegenen, vorderen Außenfläche verläuft im Bild von links oben nach rechts unten. Es kommt aber niemand auf die Idee zu behaupten, die linke obere Gebäudeecke sei höher gelegen als die rechte. Man weiß, das Gebäude ist links und rechts gleich hoch, in Wirklichkeit liegt die linke obere Ecke keineswegs höher als die rechte. Nun: auch der Mond steht in Wirklichkeit nicht "höher" als die Sonne. Es ist die Perspektive, die den Eindruck vermittelt.

 

Um Anschaulichkeit zu gewinnen, stellen wir uns vor, Mond und Sonne würden gleich hoch am Himmel stehen. Das ist eine Konstellation, die täglich vorkommt, auch wenn sie aus verschiedenen Gründen nicht allzu häufig zu beobachten sein dürfte, In einem solchen Fall würde der von der Sonne zum Mond gehende (für unser Gedankenexperiment sichtbare) Lichtstrahl ebenso waagrecht verlaufen wie die erwähnte Oberkante des Gebäudes. 

Stellen wir uns weiter vor, dass Mond und Sonne sowie die oberen Gebäudeecken für uns Beobachter die gleiche Position haben. Das ist auch durchaus möglich. Man muss eben den eigenen Beobachterstandpunkt entsprechend wählen. Wir blicken nach oben in die Mitte der Gebäudeoberkante. Auch wenn wir die Mondsichel nun nicht bzw. nicht genau sehen (weil wir dazu nach links blicken müssten), wissen wir: jetzt müsste die Mondsichel aufrecht stehen und ebenso waagrecht nach rechts zeigen wie die Gebäudeoberkante. Das ist tatsächlich der Fall und in Bild 14 dargestellt. 

Schließlich wenden wir den Blick zum linken Gebäudeende. Bild 15 zeigt nun die Wirkung der Perspektive. Obwohl sich weder beim Gebäude noch bei Mond oder Sonne irgendeine Änderung ergeben hat, verläuft die Gebäudeoberkante jetzt nach rechts oben, und eben dorthin zeigt nun auch die Mondsichel. Nach oben, obwohl die Sonne nicht höher steht als der Mond. Das ist der Grund für die verbreitete Annahme, der Weg des Lichts müsse "gekrümmt" sein. Diese Annahme ist, wie man sieht, falsch. Die Gebäudeoberkante ist so gerade wie zuvor. Ebenso der Weg des Lichts. Keine Rede von "krummen Linien". Man sieht vielmehr: die Linie schaukelt mit unserer Kopfdrehung. Sehen wir nach links, verläuft sie nach rechts oben und ist nach links gekippt. Sehen wir ans rechte Ende, ist es umgekehrt. Ebenso verhält es sich mit der Verbindungslinie zwischen Mond und Sonne. Auch sie ist je nach der Richtung, in die der Kopf gewendet ist, gekippt. Sie schaukelt eben.

Foto 1
Foto 1

3. Modell

 

Das Modell entspricht im Aufbau Bild 5 auf Seite B. Es besteht aus einer auf einen Ständer gesetzten Styroporkugel als Mond. Mit rotem Band ist die helle (rechte) von der dunklen (linken) Seite abgegrenzt. Der kleinere, nach rechts gerichtete Stab ist die Symmetrieachse des beleuchteten Mondes, also die tatsächliche Verbindungslinie zwischen Mond und Sonne. Sie weist hier im Bild etwas nach oben. Der größere Stab ist die "gesehene" bzw.  "gedachte" Verbindungslinie zwischen Mond und Sonne. Foto 1 zeigt den Aufbau.

Foto 2
Foto 2

Foto 2 zeigt die Sicht auf die fallende (gedachte) Verbindungslinie, die man sich vorstellt, wenn man die erwartete Mondneigung sucht und ungefähr in die Mitte zwischen Mond und Sonne blickt.

 

Dabei ist die tatsächliche Symmetrieachse des Mondes hinter der „gedachten“ Verbindungslinie verborgen, wie es sein muss, weil sich der Betrachter gemeinsam mit beiden in der Ekliptikebene befindet. Die Linie weist auf dem Foto nach rechts unten, ebenso wie die Mondsichel. Die Sonne steht für den Betrachter also vermeintlich tiefer als der Mond.

Foto 3
Foto 3

Foto 3 zeigt den direkt zum Mond gerichteten Blick.

 

Die Kamera ist am gleichen Ort verblieben und wurde nur zum Mond hin gedreht. Die Symmetrieachse des Mondes ist immer noch hinter der Verbindungslinie verborgen. Sie und die Verbindungslinie zeigen aber jetzt nach rechts oben, ebenso die Mondsichel. Das entspricht dem Bild, das der Mond tatsächlich bietet, wenn man ihn direkt ansieht.

 

 

Das Video zeigt den Kameraschwenk.

 

Das Phänomen zeigt sich bei jedem Kameraschwenk und ebenso, wenn man seinen Kopf zum Mond hin wendet (aber nicht zur Seite neigt, siehe Seite C, Bild 9).

 

Es wird gegen die Verweisung  auf die geometrischen Wirkungen der Perspektive gern eingewendet, dass die Geometrie keine Erklärung bieten könne, weil Sonne, Mond und Erde sämtlich in der Ekliptikebene lägen, so dass die Sichel immer aufrecht stehe und nie geneigt sein könne. Die Prämisse trifft zu, der Schluss nicht. Es wird der Unterschied zwischen der Ekliptik- und der Horizontalebene und die Existenz der Bildebene außer Acht gelassen, und es werden der den Mond treffende Sonnenstrahl und seine Projektion auf die Bildebene nicht unterschieden, siehe Bilder 4 und 5, Seite B.

 

4. Fotografie

 

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Fotografie. Objektive mit üblichen Brennweiten (75 bis 85 mm bei Mittelformat 6x6 cm) bilden gerade Linien auf der Fotografie wiederum als Gerade ab, freilich ggf. gestürzt. Auch Weitwinkelobjektive sind gewöhnlich geradentreu. Wird ein solches Objektiv direkt auf den Mond gerichtet, ist der Mond auf dem Foto mit der „falschen“ Neigung zu sehen. Das menschliche Sehen entspricht dem Objektiv mit üblichen Brennweiten, weil Gerade als Gerade „gesehen“, d.h. verstanden werden, auch wenn sie sich über das gesamte Gesichtsfeld erstrecken. Wird jedoch ein Fischaugen-Objektiv verwendet, entsteht ein Bild, das der Vorstellung einer "gekrümmten" Linie entspricht. Die über den Platz gespannte Stromleitung ist auf dem untenstehenden Fischaugen-Foto nach oben gewölbt („Platz vor dem schwedischen Theater in Helsinki“, Autor Ralf Roletschek, Pentacon SIX mit Fisheye Arsat 1:3,5 / 30). Die Stromleitung "zeigt" an ihrem linken Ende ebenso nach rechts oben, wie in unserem Beispiel der Mond. Die „falsche Mondneigung“ scheint dem Fischaugen-Effekt

„Platz vor dem schwedischen Theater in Helsinki“
„Platz vor dem schwedischen Theater in Helsinki“

zu ähneln, der Gerade zu Kurven verzerrt, weil, wer sich den Mond mit der zu hohen Neigung einerseits "zusammen" mit der niedriger stehenden Sonne andererseits vorstellt, den direkten Blick auf den Mond und den zur Sonne gerichteten Blick also gedanklich in ein einziges Bild holt und damit ebenso "zusammenzieht", wie das das Fischaugen-Objektiv tut. Sowohl das Objektiv als auch die - irrige - Vorstellung produzieren eine gekrümmte Linie, im Fall der gedanklichen Vorstellung aber deswegen zu Unrecht, weil der Mensch nicht fischaugenähnlich wahrnimmt, und beim Schwenken des Kopfs keine gekrümmten Linien entstehen. Das bemerkt jeder, der die schon erwähnte Dachrinne an der Gebäudefront betrachtet und seinen Kopf hin und her wendet. Man sieht, dass die Dachrinne immer gerade bleibt, aber eben schaukelt. "Krumme Linien" gibt es für den Betrachter von Mond und Sonne ebensowenig wie bei der Dachrinne. Auch das Fischaugenobjektiv bietet keine Rechtfertigung für die Behauptung, es gebe hier gekrümmte Linien. Von solchen spricht, wer die Sache nicht verstanden hat.

 

Fotos, auf denen die Abweichung so abgebildet ist wie in dem in der Einleitung zu findenden Bild „falsche" Mondneigung, müssen entweder mit Fischaugenobjektiv aufgenommen oder aus mehreren Fotos zusammengesetzt sein. Es deswegen auch klar, dass man Mond und Sonne nicht auf die Weise gemeinsam sehen kann, wie das mit dem Bild in der Einleitung suggeriert wird. Man hat für schärferes Sehen nur einen sehr engen Blickwinkel und kann nicht beide Objekte gleichzeitig genau ins Auge fassen. Sondern man blickt etwa zunächst zur Sonne und sieht, dass sie schon tief steht. Danach wendet man sich zum höher stehenden Mond und bemerkt erstaunt, dass er wider Erwarten nach oben blickt. Man hat also zwei getrennte Bilder, die durch eine jeweils unterschiedliche perspektivische Situation geprägt sind. Dann zieht man beide Bilder gedanklich zu einem Bild zusammen und gelangt zu dem Fehlschluss auf eine "falsche" Stellung der Sichel, weil sofort vergessen wird, dass es sich nicht um ein einziges Bild, sondern um zwei verschiedene Bilder mit unterschiedlicher Perspektive gehandelt hat. Der Fischaugeneffekt entsteht also nicht in Wirklichkeit und nicht auf eine irgend geartete optische Weise, sondern ist allein das Ergebnis einer Selbsttäuschung. Es existiert am Firmament weder "gekrümmtes" noch "gebogenes" Licht.

 

5. Optische Täuschung ?

 

Bei der "falschen" Mondneigung handelt es sich nicht um eine optische Täuschung. Denn es wird bei der Mondneigung nichts Anderes gesehen, als vorhanden ist. Auch auf dem Foto wäre der Mond mit der nämlichen Neigung abgebildet, wie man sie sieht. Es handelt sich allein um den hier aufgedeckten gedanklichen Fehlschluss und um einen Interpretationsirrtum, der sich über die physikalischen und geometrischen Regeln unzulässig hinwegsetzt (meine früher geäußerte Meinung, es handle sich bei diesem Interpretationsirrtum um eine optische Täuschung "im weiteren Sinn", halte ich nicht aufrecht). Die Lehre daraus sollte wohl sein, dass wir unseren Augen nicht immer und nicht unbesehen glauben sollten.